Yoga – Emmanuel Carrère | Eine Rezension

Hinweis: Ich habe das Buch selbst gekauft. Es handelt sich um eine persönliche Lektüreempfehlung ohne wirtschaftliche Verbindung zur Autor*in oder zum Verlag. Aus rechtlichen Gründen kennzeichne ich den Beitrag dennoch als Werbung.

Ein literarisch selbstironischer, psychologisch schonungsloser und gesellschaftlich brisanter Roman über Meditation, Depression und die Krisen unserer Zeit

Emmanuel Carrères Roman Yoga hat mich gleichermaßen aufgewühlt und nachdenklich gestimmt – intellektuell wie emotional. Hinter dem Titel, der Gelassenheit verspricht, verbirgt sich eine existenzielle Reise durch psychische Abgründe und gesellschaftliche Erschütterungen. Carrère, Jahrgang 1957 und einer der bekanntesten Schriftsteller Frankreichs​, spannt den Bogen von innerer Zerrissenheit zu äußeren Katastrophen. Sein zunächst scheinbar harmloses Vorhaben – ein „kleines, heiteres Buch“ über Yoga zu schreiben – gerät zum Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Selbsterkundung, die keinen Halt vor Depression, Bipolarität und existenzieller Verzweiflung macht. Und es ist mehr als Carrères private Krise: Yoga spiegelt den seelischen Zustand einer Zeit, in der Terroranschläge, Flüchtlingsströme und die Suche nach Sinn ineinandergreifen.

Literarische Qualität

Stilistisch bietet Carrère ein originelles Hybrid aus Memoir, Essay und Reportage. Schon die Eröffnungsszene – der Ich-Erzähler (der unverkennbar Carrère selbst ist) bei einem zehntägigen Vipassana-Meditationsretreat – zeigt den besonderen Ton: trocken, selbstironisch, mit feiner Beobachtungsgabe​. Carrère karikiert augenzwinkernd sowohl die „Sinnsucher“ um ihn herum als auch sich selbst, den alternden Intellektuellen auf der Yogamatte. Diese humorvolle Distanz zieht sich durch das gesamte Buch und verhindert jegliche Rührseligkeit. Im Gegenteil – oft musste ich trotz schwerer Thematik auflachen. Dieses Wechselspiel aus Tiefgründigkeit und beißendem Witz verleiht dem Text eine eigentümliche Leichtigkeit.

Gleichzeitig beeindruckt die Erzähltechnik. Carrère versteht es meisterhaft, disparate Episoden zu einer fesselnden Erzählung zu verweben​. Was zunächst als tagebuchartige Meditationsbeobachtung beginnt, entwickelt sich unerwartet zu einem rastlosen Trip durch verschiedene Lebensstationen: die jäh abgebrochene Klausur, der Zusammenbruch und Klinikaufenthalt, schließlich eine Reise auf die griechische Insel Leros. Diese Brüche in der Handlung könnten leicht holprig wirken, doch Carrère konstruiert daraus einen erstaunlich stimmigen Erzählbogen. Eine auffällige Leerstelle bleibt: Über die Krise seiner Ehe – die möglicherweise im Hintergrund seines seelischen Zusammenbruchs stand – verliert er (vermutlich aus juristischen Gründen) kaum ein Wort. Dieses schwarze Loch in der Handlung mag irritieren, doch es wird durch Carrères offene Reflexion über das „Nicht-Erzählen-Dürfen“ selbst zum Teil der Geschichte. Literarisch gleicht „Yoga“ einer Collage: mal Anekdoten, mal philosophische Exkurse, mal reportagehafte Beschreibungen – und immer wieder die schonungslose Innenschau eines hochreflektierten Ichs. Carrères Sprache ist klar und pointiert; sie verbindet intime Geständnisse mit gelehrten Abschweifungen. Zwischen den persönlichen Episoden blitzen immer wieder philosophische und literarische Bezüge auf – von Nietzsche über Montaigne bis hin zu Stephen Hawking –, die Carrères Selbstbetrachtungen in einen vielstimmigen kulturellen Resonanzraum stellen. Die Übersetzung von Claudia Hamm fängt Carrères feine Gratwanderung zwischen Ironie und Ernst erstaunlich präzise ein – ohne den Rhythmus oder die Schärfe des Originals zu verlieren.

Psychologische Tiefe

Die seelische Offenlegung in Yoga ist bemerkenswert. Carrère lässt den Leser hautnah an seiner inneren Achterbahnfahrt teilhaben – bis in die dunkelsten Tunnel seiner Depression. Nach dem Abbruch des Meditationsretreats verfällt der Erzähler in eine tiefe Depression; die Ärzte diagnostizieren bei ihm eine bipolare Störung und weisen ihn in eine psychiatrische Klinik ein​. Dort lässt er sich mit Elektroschocks und Ketamin behandeln, um der “existenzvernichtenden” Krankheit etwas entgegenzusetzen​. Carrère beschönigt nichts: Er schreibt über Suizidgedanken, den Verlust jeglichen Lebenswillens und das Gefühl absoluter Leere mit einer schonungslosen Ehrlichkeit, die stellenweise weh tut. Besonders diese Kapitel seiner „psychiatrischen Autobiografie“ lesen sich erschütternd​ – gerade weil sie sachlich-nüchtern bleiben und frei von Selbstmitleid sind. Als Leser*in blickt man in einen Abgrund aus Angst, Wut und Verzweiflung, der einen frösteln lässt bei der Vorstellung, solch eine Gefühlswelt könnte einen selbst heimsuchen. Gleichzeitig liegt in Carrères radikaler Offenheit ein paradox tröstlicher Aspekt: Er zeigt, dass man selbst im komplett entgleisten Zustand noch Worte finden kann, um das Erleben zu fassen – Worte, die womöglich vor dem völligen Verstummen bewahren.

Gedanklich reflektiert der Autor unentwegt über seine Lage. Immer wieder fragt er sich (und uns): Was hat ihn in diese Tiefe gestoßen? War es das traumatische Außen – der Terror, der sein Leben infiltrierte – oder ein Zusammenbruch von innen heraus? Eine eindeutige Antwort bleibt aus. Carrère räumt ein, dass er nicht alles erzählen kann, was geschehen ist, um die Krise auszulösen. Diese Lücke macht das Buch in gewisser Weise zum Rätsel über die Psyche: Wir erleben die Auswirkungen – den Absturz, die Behandlung, die mühsame Stabilisierung – ohne die vollständige Ursache zu kennen. Das spiegelt letztlich eine Wahrheit über psychische Krankheiten: Sie entziehen sich oft der klaren Kausalität. Ist Meditation gefährlich für labile Geister? Oder war es ein Schicksalsschlag im Privaten, der ihn zerbrechen ließ? Carrère lässt diese Fragen offen. Stattdessen beschreibt er ehrlich seinen Versuch, wieder Fuß zu fassen. Er thematisiert auch die Grenzen der Spiritualität: Meditation allein rettet ihn nicht – am Ende benötigt er Lithium und ärztliche Hilfe, um ins Leben zurückzufinden. So verweigert Yoga jede simple Heilsbotschaft. Das Buch zeigt, wie fragil die Psyche ist, und dass es keine lineare Erlösung gibt. Heilung folgt keinem geraden Pfad – mal sind es kleine Begegnungen, mal einfach das Vergehen der Zeit, die etwas Licht in das Innere bringen. Genau diese feine, unaufgeregte Beobachtung der eigenen Brüchigkeit macht Yoga zu einem Buch, das nicht loslässt und eigene Gedanken in Bewegung bringt.

Gesellschaftliche Relevanz

So persönlich Carrères Bericht ist, er bleibt nicht im eigenen Ich gefangen. Yoga ist zugleich durchdrungen vom Zeitgeschehen der 2010er Jahre – und gewinnt daraus eine unerwartete gesellschaftliche Dimension. Gleich zwei große Krisen unserer jüngsten Vergangenheit dringen in die Erzählung ein: der islamistische Terror in Frankreich und die europäische Flüchtlingskrise. Ersterer bricht brutal in Carrères Geschichte, als das Attentat auf Charlie Hebdo vom Januar 2015 seine Meditationsklausur abrupt beendet​. Carrère erfährt, dass sein Freund Bernard Maris unter den Ermordeten ist​. Der Schock dieser Nachricht erschüttert nicht nur die Nation, sondern auch ihn persönlich – es ist, als kollidiere die stille spirituelle Suche abrupt mit der harten Realität der Welt. Von einem Moment auf den anderen wird aus dem schreibenden Meditierenden ein trauernder Freund, konfrontiert mit sinnloser Gewalt. Diese Episode verankert das Buch fest im historischen Kontext und macht deutlich: Selbst in der Abgeschiedenheit holt einen die globale Wirklichkeit ein. Es ist bezeichnend für unseren Zeitgeist, wie Carrère die eigene Betroffenheit mit der allgemeinen verbindet – die individuelle Depression mit der kollektiven Trauer um einen Terroranschlag.

Wenig später öffnet sich Yoga einer weiteren zeitgeschichtlichen Facette: Carrère reist auf die griechische Insel Leros, just als 2015 dort Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan ankommen​. Inmitten dieser humanitären Krise engagiert er sich und betreut jugendliche Geflüchtete in einem Schreibworkshop. Hier begegnet sein persönliches Leid dem Leid anderer: Die traumatisierten jungen Männer, die vor Krieg und Not geflohen sind, halten ihm gewissermaßen den Spiegel vor. Carrère erkennt, dass er nicht allein in der Verzweiflung ist – sein eigenes Elend relativiert sich angesichts der Schicksale dieser Jugendlichen​. Anstatt jedoch in plakative Botschaften zu verfallen, bleibt der Ton vorsichtig. Carrère schildert die Begegnungen sensibel und ohne Selbstbeweihräucherung. Man merkt dem Text an, dass der Autor zuvor als Reporter in Krisengebieten und sozialen Brennpunkten unterwegs war​: Seine Beobachtungen der Flüchtlingssituation sind genau, mitfühlend, aber auch nüchtern. Mitgefühl über mediale Distanz – also die Fähigkeit, Anteilnahme für Fremde in der Ferne zu empfinden – wird hier greifbar. Indem Carrère vor Ort hilft, überwindet er die abstrakte Betroffenheit aus den Nachrichten und wandelt sie in konkrete Menschlichkeit um. Für uns Leser*innen, die solche Tragödien meist nur durch die Medien erleben, entsteht so ein wertvoller Perspektivwechsel.

Darüber hinaus stellt Yoga implizit Fragen an unsere Gesellschaft: Was gibt uns Halt in einer Welt, die gleichermaßen von Terrorangst und dem Heilsversprechen der Achtsamkeit geprägt ist? Carrère zeigt die Ambivalenz des Zeitgeists: Einerseits der Boom von Yoga und Meditation in der westlichen Welt – oft vermarktet als Patentrezept für Glück und Gesundheit; andererseits eine zunehmende seelische Fragilität und Orientierungslosigkeit angesichts realer Krisen. Indem er seine persönliche Geschichte mit Ereignissen wie dem Anschlag von Paris und der Flüchtlingswelle verknüpft, hält Carrère auch unserer Gegenwart einen Spiegel vor. Er offenbart einen wesentlichen Zusammenhang: Die Verletzlichkeit des Einzelnen und die der Gesellschaft gehören zusammen. So ist Yoga letztlich auch ein gesellschaftliches Dokument über ein Jahrzehnt der Verunsicherung – und über den Versuch, als Individuum darauf zu reagieren, sei es durch Meditation, Engagement oder Literatur.

Persönliche Wirkung

Selten hat mich ein Buch auf so vielen Ebenen angesprochen wie Yoga. Beim Lesen fühlte ich mich nicht nur als Beobachterin von Carrères Reise, sondern geradezu als Mitreisende – mal widerwillig, mal fasziniert. Manche Passagen haben mich an eigene dunkle Stunden erinnert: Wenn Carrère von panischer Angst und dem Wunsch zu sterben schreibt, blitzten in mir Erinnerungen an Zeiten auf, in denen auch ich mit negativen Gedankenspiralen kämpfte. Das war beunruhigend und doch seltsam verbindend. Andere Momente wiederum spendeten Trost. Zu sehen, wie Carrère langsam aus seinem Tief herausfindet – sei es durch kleine Lichtblicke im Austausch mit den Flüchtlingsjugendlichen oder einfach durch das Ablaufen der Zeit – hat in mir ein leises Gefühl der Hoffnung geweckt. Besonders bewegt hat mich, wie ehrlich der Autor seine „Schwächen“ zugibt. Diese radikale Selbstentblößung hat bei mir große Achtung hervorgerufen. Anstatt sich als Held seiner eigenen Geschichte zu stilisieren, zeigt er sich in all seiner Zerbrechlichkeit. Das machte es mir als Leserin leicht, Mitgefühl zu empfinden, selbst in Momenten, wo ich seine egozentrischen Neigungen belächelt habe.

Auch formal war die Lektüre ein Erlebnis der Kontraste: Eben noch liest man eine fast meditative Beschreibung eines Waldspaziergangs im Retreat, dann bricht plötzlich die Nachricht vom Terroranschlag herein – ich spürte beim Lesen förmlich den Adrenalinschub dieses Bruchs. Es erinnerte mich an die eigene Erfahrung, am 7. Januar 2015 fassungslos vor den Nachrichten zu sitzen, jedoch ohne persönlich Betroffene zu kennen. Carrère hat mir mit seinem Bericht eine neue Perspektive auf diesen Tag gegeben: die eines Menschen, der Trauer und Schock nicht nur via Bildschirm, sondern unmittelbar im eigenen Leben erfährt. Das hat mich tief berührt. Ebenso nachhallend war sein Aufenthalt auf Leros: Die Schilderungen der Geflüchteten haben in mir Bilder jener Zeit wachgerufen – überfüllte Boote, Hilfscamps – und mich daran erinnert, wie schnell man im Alltag abstumpft gegenüber solchen Bildern. Yoga hat mich daran erinnert, hinzusehen und nachzufühlen.

Am Ende legte ich das Buch mit dem Gefühl aus der Hand, wirklich in einen anderen Menschen hineingeschaut zu haben – und dadurch auch mich selbst ein Stück besser zu verstehen. Carrère ist kein Weisheitslehrer, der einfache Lösungen präsentiert. Aber gerade darin liegt die Stärke dieses Buches: Es gesteht zu, dass das Leben keine lineare Heilung und kein dauerhaftes Gleichgewicht kennt. Die letzte Seite schlägt man nicht mit einer fertigen Antwort zu, sondern mit vielen Fragen im Gepäck: Wie viel Kontrolle haben wir über unser Glück? Wie gehen wir mit dem Leid der Welt und dem eigenen um? Und was bedeutet es wirklich, bei sich anzukommen? Yoga bietet keine simplen Antworten – doch es ermutigt dazu, die Suche danach nicht aufzugeben. In seiner eindringlichen Mischung aus Schmerz, Selbstironie und Mitmenschlichkeit entfaltet Carrères Bericht eine unerwartet tröstliche Wirkung: Er zeigt, dass im schonungslosen Anerkennen der eigenen Verletzlichkeit eine Form von Stärke liegt. Und dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann wieder ein Morgen dämmert.

 

Quellenhinweis

Die Informationen in dieser Rezension beruhen auf der Lektüre von Yoga von Emmanuel Carrère (deutsche Übersetzung von Claudia Hamm, Matthes & Seitz, 2022) sowie auf ergänzenden Details aus Interviews und Rezensionen. Hierzu zählen unter anderem Besprechungen in The Guardian​ und der Los Angeles Times​, ein Beitrag auf Deutschlandfunk Kultur​ sowie Berichte über Carrères Biografie und Werk in der internationalen Presse​. Diese Quellen haben dazu beigetragen, Carrères Werk im Kontext seiner Rezeption und seines Schaffens einzuordnen.

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