Dschinns – Fatma Aydemir | Eine Rezension

Hinweis: Ich habe das Buch selbst gekauft. Es handelt sich um eine persönliche Lektüreempfehlung ohne wirtschaftliche Verbindung zur Autor*in oder zum Verlag. Aus rechtlichen Gründen kennzeichne ich den Beitrag dennoch als Werbung.

Ein gesellschaftlich hochrelevanter Familienroman über Migration, Zugehörigkeit und die Geister der Vergangenheit

Unter dem vermeintlich mystischen Titel, der auf die unsichtbaren Dschinn-Geister aus der islamischen Folklore anspielt, verbirgt sich eine intensive Auseinandersetzung mit Familiengeheimnissen, Identitätskonflikten und den realen Erfahrungen von Migration. Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren und als Journalistin bei der taz tätig, erzählt die Geschichte der deutsch-türkischen Gastarbeiterfamilie Yılmaz über sechs Perspektiven hinweg. Als Familienvater Hüseyin nach dreißig Jahren harter Arbeit in Deutschland am Tag des Einzugs in seine Traum-Eigentumswohnung in Istanbul plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, kommen seine Frau und die vier erwachsenen Kinder zur Beerdigung zusammen. Dieses erzwungene Wiedersehen nach Jahren in der alten Heimat lässt lang verdrängte Konflikte, Geheimnisse und Wunden aufbrechen. Nicht umsonst hat Aydemir den Roman in den späten Neunzigerjahren verortet – einer Zeit voller Umbrüche, in der die rassistischen Anschläge der Nachwendezeit nachhallten. Der Titel Dschinns ist dabei Programm: Für Aydemir stehen die Dschinn-Geister stellvertretend für all die Leerstellen, Tabus und unbewältigten Gefühle, die in dieser Familie umhergehen. Man spürt schnell, dass es in diesem Roman nicht um Übersinnliches geht, sondern um sehr reale „Geister“ der Vergangenheit, die hier endlich ans Licht drängen.

Literarische Qualität

Aus literarischer Sicht hat Dschinns eine ungewöhnliche, ambitionierte Erzählstruktur. Jedes der sechs Kapitel gibt einer anderen Figur der Familie Yılmaz eine eigene Stimme – beginnend mit dem verstorbenen Vater, gefolgt von den vier Kindern und abschließend der Mutter. Dieser multiperspektivische Ansatz verleiht dem Roman eine große Vielstimmigkeit und Dynamik. Stilistisch wagt Aydemir besondere Kniffe: So ist etwa das erste Kapitel in der seltenen zweiten Person Singular verfasst. Der Effekt ist verblüffend – wir erleben Hüseyins Lebensrückblick in einem direkt an ihn gerichteten „Du“, was ungeheure Nähe erzeugt. Auch im letzten Kapitel, aus Sicht der Mutter Emine, greift Aydemir diesen Kniff erneut auf, wenn eine innere Stimme Emine in der Du-Form anspricht. Diese Wechsel der Erzählperspektive – mal personal, mal sogar direkt an die Figur gerichtet – habe ich als klugen Kunstgriff empfunden, der die Leser*innen tief in die jeweiligen Innenwelten hineinzieht.

Angesichts dieses erzählerischen Könnens überrascht es nicht, dass die literarische Qualität von Dschinns in der Kritik viel Lob erhielt – aber auch einige harsche Urteile. Auf der einen Seite feierte etwa Meike Feßmann in der Süddeutschen Zeitung den Roman als „ein Wunderwerk an Präzision und Einfühlung“. Die Sprache sei klar und elegant, zugleich emotional aufgeladen, ohne je kitschig zu werden. Tatsächlich fand auch ich Aydemirs Tonfall bemerkenswert: nüchtern und unprätentiös, aber mit einer untergründigen Intensität, die einen beim Lesen immer wieder trifft. Insbesondere eine späte Schlüsselszene, in der Mutter und Tochter endlich das jahrzehntelange Schweigen brechen, ist von der Kritik als „grandios“ beschrieben worden – ein Urteil, dem ich mich nur anschließen kann, da mich diese Passage durch ihre Eindringlichkeit frösteln ließ. Zudem versteht Aydemir es, realistische Milieuschilderung mit poetischen Bildern zu verweben; die titelgebenden Geister werden nie platt wörtlich genommen, sondern schwingen subtil in den Dialogen und Beschreibungen mit.

Doch auf der anderen Seite gab es auch kritischere Stimmen, die den literarischen Rang von Dschinns infrage stellen. Iris Radisch etwa urteilte in Die Zeit, Aydemirs Ansichten seien zwar ehrenwert, aber die „literarische Qualität“ des Romans leider „bedrückend“. Auch der Rezensent Christoph Schröder vom Deutschlandfunk monierte, Dschinns sei „kein gelungener literarischer Text“, formal unausgereift und in seiner politischen Botschaft mitunter wenig subtil. Solche Kritikpunkte zielen darauf ab, dass Aydemir eher auf klar verständliche Botschaften setze als auf feine literarische Andeutung. Tatsächlich trägt der Roman stellenweise deutliche Message-Momente – doch mindert das wirklich seinen literarischen Wert? Meines Erachtens nicht gravierend. Dschinns mag stilistisch nicht in jedem Moment zur ersten Garde der Hochliteratur zählen, aber Aydemirs schnörkellose, direkte Sprache passt zu den Figuren und ihrem Erleben. Sie will authentisch von Menschen erzählen, die oft selbst keine blumige Sprache haben – und genau das tut sie mit einer eindrücklichen Klarheit. Außerdem erzeugt der Roman einen Sog, wie ihn auch der Spiegel hervorhob: Er entwickelt jenen Sog guter Erzählkunst, der einen Dschinns kaum aus der Hand legen lässt. Für mich liegt die Stärke von Aydemirs Schreibweise weniger im Feilen an jedem Satz, sondern im großen Ganzen – im mitreißenden Erzählen, das komplexe Inhalte doch sehr zugänglich transportiert.

Psychologische Tiefe

Im Kern ist Dschinns ein Familien- und Charakterroman. Die psychologische Ausarbeitung der Figuren ist daher entscheidend – und hier überzeugt Aydemir auf weiten Strecken. Jede der sechs Hauptfiguren trägt ein eigenes Päckchen an Träumen, Traumata und Geheimnissen mit sich herum. Nach und nach enthüllt der Roman diese verborgenen Konflikte: Sei es der sanfte Sohn Ümit, der seine Homosexualität entdeckt und sich niemandem anvertrauen kann; die älteste Tochter Sevda, die jahrelang ein Opfer unglücklicher Umstände war und den Kontakt zu den Eltern abgebrochen hat; Peri, die belesene Studentin, innerlich zerrissen zwischen intellektuellem Freiheitsdrang und familiärer Verantwortung; oder Hakan, der rebellische jüngere Sohn, der auf Biegen und Brechen finanziellen Erfolg will. Aydemir gelingt es, all diesen Stimmen gerecht zu werden. Jede Figur erhält Raum, wird mit ihren Widersprüchen ernst genommen. In der Tat bemerkte der Spiegel treffend, dass in Aydemirs Erzählweise eine große Gerechtigkeit liegt – jeder und jede wird gesehen. Als Leserin spürte ich schnell Empathie mit jedem der Familienmitglieder, trotz (oder gerade wegen) ihrer Fehler und Schwächen. Die Verletzungen, die sie einander zufügen, sind beim Lesen oft schmerzhaft fühlbar, weil sie so nachvollziehbar aus den Biografien heraus entstehen.

Besonders die weiblichen Figuren stechen in ihrer psychologischen Tiefe hervor. Die resolute, aber innerlich gekränkte Mutter Emine etwa ist eine ungemein bewegende Persönlichkeit, zugleich geprägt von eigenen Traumata und der Härte des Lebens als Migrantin und Hausfrau. Die Literaturkritikerin Nicole Henneberg lobte in der FAZ denn auch vor allem die stark gezeichneten Frauenfiguren in Dschinns. Auch mich haben Emine und ihre Töchter am meisten berührt: Wie Emine trotz Depressionen kaum ein Konzept von seelischer Krankheit hat und ihre Leiden stumm in sich hineinfrisst, ist eindrucksvoll und tragisch geschildert. Ebenso bewegend ist die Figur der Sevda, die als junges Mädchen gegen ihren Willen verheiratet wurde und sich später – in Deutschland angekommen – aus dieser Ehe löst. Die Entfremdung zwischen Sevda und ihrer Mutter, dieses jahrelange Schweigen voller unverarbeiteter Verletzungen, bildet einen emotionalen Kern des Romans. In einer späten Konfrontation zwischen den beiden entlädt sich all das Ungesagte – ein Kreiseln in Vorwürfen und Verhärtungen, das einen als Leser*in unmittelbar angeht. Hier zeigt Aydemir ein feines Gespür dafür, wie Familienmitglieder aneinander vorbeireden und doch verzweifelt nach Versöhnung suchen. Die psychologische Glaubwürdigkeit solcher Szenen ist hoch; man meint, diese Mutter und Tochter könnten wirklich genau so existieren.

Dennoch ist nicht zu leugnen, dass Aydemir sehr viele unterschiedliche Konfliktlinien in einer einzigen Familie bündelt. Jede der Figuren steht auch prototypisch für bestimmte Themen. Ein Kritiker bemerkte spitz, es habe den Anschein, als müsse jedes Kind für eine bestimmte Lebensform Modell stehen – „wie vier Folgen einer Netflixserie: der junge Schwule, die sich gegen alle Widerstände durchsetzende Tochter, die theoretisch versierte Studentin, [und] der Junge der zweiten Einwanderergeneration, der […] von niemandem sich etwas vorschreiben lassen will“ (Tagesspiegel). Dieser Punkt ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Die Konstellation der Yılmaz-Kinder wirkt stellenweise bewusst so angelegt, dass möglichst viele Facetten der migrantischen Erfahrung abgedeckt werden. Als Leserin habe ich zwar die einzelnen Schicksale jeweils als stimmig empfunden, aber das Gleichzeitige all dieser „großen Themen“ in einer Familie war mir zwischendurch fast etwas viel. Andererseits – warum nicht? Familien sind oft Kaleidoskope unterschiedlichster Charaktere. Aydemir selbst betont, dass sechs so verschiedene Menschen trotz aller Unterschiede Teil einer Familie sein können. Entscheidend ist, dass sie uns ihre jeweilige innere Welt nahebringt. Und das gelingt: Trotz kleiner Überzeichnung an mancher Stelle habe ich den Figuren ihre individuellen Gefühle und Entwicklungskonflikte abgenommen. Dschinns schreckt nicht davor zurück, schmerzhafte innere Wahrheiten offenzulegen – von lebenslanger Schuld bis zu versteckter Scham – und verleiht dem Familiengefüge damit eine beeindruckende psychologische Tiefe.

Gesellschaftliche Relevanz

Neben dem Familiendrama an sich entfaltet Dschinns auch ein Panorama sozialer und politischer Themen, was dem Roman eine große gesellschaftliche Relevanz verleiht. Fatma Aydemir erzählt nicht im luftleeren Raum, sondern bindet die Geschichte der Familie Yılmaz fest in historische und gesellschaftliche Kontexte ein. Schon die Ausgangssituation – eine türkisch-kurdische Gastarbeiterfamilie in Deutschland – behandelt ein zentrales Kapitel deutscher Zeitgeschichte. Aydemir erinnert uns daran, dass hinter dem abstrakten Begriff „Gastarbeiter“ konkrete menschliche Geschichten stehen: etwa die eines Mannes, der in den 1970ern aus einem kurdischen Dorf ins fremde Deutschland ging, Jahrzehnte lang am Metallofen schuftete und doch stets von der Sehnsucht nach einem „Zuhause“ getragen wurde, das ihm das kalte Deutschland nicht bieten konnte. Der Roman legt den Finger auf die Wunde, dass diese erste Generation von Migranten ihre traumatischen Erfahrungen oft totgeschwiegen hat – aus Scham oder aus dem Wunsch, den Kindern ein besseres Leben ohne Ballast zu ermöglichen. So hat Vater Hüseyin nie über seine Erlebnisse als Kurde im türkischen Militär gesprochen, nicht über die Gewalt, die er erfahren und möglicherweise ausgeübt hat. Stattdessen verbietet er seiner Frau, mit den Kindern Kurdisch zu sprechen, und verkörpert so das erzwungene Schweigen vieler Migranten jener Generation. Dschinns macht diese Verdrängung sichtbar und thematisiert damit implizit auch die Leerstellen in der Aufarbeitung solcher Migrationsgeschichten.

Zugleich richtet der Roman den Blick auf die nachfolgende Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist. Die Yılmaz-Kinder haben bessere Bildungschancen, sprechen fließend Deutsch, teilweise kaum noch die Sprache ihrer Eltern – sie haben also ein ganz anderes kulturelles Kapital als die Elterngeneration. Damit verbunden sind aber auch neue Konflikte: Peri etwa bewegt sich als Akademikerin in einer Welt, die ihren Eltern fremd ist; sie denkt feministischer und liberaler, während zuhause noch patriarchale Vorstellungen herrschen. Solche Generationenkonflikte durchziehen das Buch und dürften vielen Leser*innen mit Migrationshintergrund bekannt vorkommen. Wie definiert man Zugehörigkeit, wenn die Eltern aus einem anderen Land stammen? Was bedeutet Heimat für Kinder, die zwischen zwei Kulturen stehen? Aydemir stellt diese Fragen, ohne einfache Antworten zu liefern. Stattdessen zeigt sie die Spannungen auf: etwa wenn die Eltern immer betonen, sie hätten alles „für die Kinder“ geopfert, sodass diese bloß „nicht klagen“ sollen – während die Kinder den Druck spüren, den Erwartungen nicht gerecht zu werden und gleichzeitig ihren eigenen Weg suchen. Mir erschien dies alles sehr glaubhaft und wichtig, denn genau an solchen innerfamiliären Dialogen entscheidet sich, ob Zugehörigkeit über Generationen neu verhandelt werden kann.

Darüber hinaus greift Dschinns eine Fülle weiterer Themen auf, die weit über das Private hinausweisen: Alltagsrassismus, Homophobie, Sexismus, der kleinbürgerliche Moralismus der deutschen Provinz – all das findet Platz in den Erlebnissen der Yılmaz-Familie. Man könnte sagen, Aydemir liefert einen Querschnitt der Diskurse unserer Zeit. „Identität und fluide Sexualität, weibliche Selbstermächtigung und staatliche Gewalt gegen marginalisierte Gruppen, Rassismus, Klassismus… – es gibt kaum ein Schlagwort des aktuellen Diskurses, das Fatma Aydemir auslässt“, staunte ein Rezensent (Deutschlandfunk). Diese Aussage ist einerseits kritisch gemeint, trifft andererseits aber den Punkt: Dschinns ist durch und durch ein Roman der Gegenwart, auch wenn seine Handlung 1999 spielt. Viele Konflikte, die Aydemir schildert, sind heute so virulent wie damals. Gerade die Entscheidung, die Geschichte um die Jahrtausendwende anzusiedeln, ermöglicht interessante Spiegelungen. So erinnert der Roman explizit an die rassistischen Brandanschläge auf Migranten in den frühen 90ern – etwa in Solingen, Mölln, Hoyerswerda – indem er ein ähnliches Ereignis in die Familienbiografie einbaut. Dadurch wird deutlich: Die offenen Anfeindungen, mit denen die Yılmaz in Deutschland konfrontiert sind, haben reale Vorbilder; das „Dazwischensein“ zwischen zwei Kulturen war (und ist) oft mit schmerzhafter Ausgrenzung verbunden. Aydemir klagt dies an, ohne in plakativen Ton zu verfallen. Sie zeigt beispielsweise, wie Sevda in der Türkei als Kurden-Mädchen diskriminiert wird und nach der Übersiedlung nach Deutschland erneut Vorurteilen ausgesetzt ist – ein Leben zwischen den Stühlen. Auch Ümits Erleben als junger schwuler Mann in einer konservativen Migrantencommunity illustriert, wie vielfältig die Dimensionen von Zugehörigkeit und Anderssein sein können. Gerade weil Dschinns so viele Facetten – Migration, Identität, Religion, Sexualität – miteinander verschränkt, ist der Roman gesellschaftlich überaus reichhaltig.

Manche Kritiker warfen Aydemir vor, ihr Deutschland-Bild sei zu düster und klischeehaft gezeichnet. Tatsächlich kommen deutsche Figuren in Dschinns überwiegend am Rande und selten positiv vor – sei es der desinteressierte Beamte, der ausländerfeindliche Polizist oder der spießige Sporttrainer. Doch genau hier liegt ein kontrovers diskutierter Punkt: Ist das nun Einseitigkeit – oder einfach die Perspektive der Figuren, die Diskriminierung erfahren? Aydemir selbst hat sich dazu in Interviews geäußert und deutlich gemacht, dass sie ihren Roman nicht als Abrechnung mit „den Deutschen“ versteht. Im Gegenteil, sie findet es befremdlich, wenn manche Leser*innen nur auf diese Frage fokussieren. „‘Deutschland’ an sich oder ‘die Deutschen’ spielen ja keine so große Rolle in Dschinns“, betont die Autorin. Wer allein danach zähle, wie gut oder schlecht die deutschen Figuren wegkommen, verkürze den literarischen Zugang – „das sagt mehr über die Leute aus als über meine Arbeit“, so Aydemir bissig. Meiner Ansicht nach hat sie Recht: Dschinns handelt nicht von der Bundesrepublik oder „den Deutschen“ per se, sondern von einer Migrantenfamilie in Deutschland. Und in deren Lebenswirklichkeit gehören Erfahrungen von Rassismus und Fremdheit nun einmal dazu – was soll daran klischeehaft sein, wenn es doch vielen so ergeht? Gerade weil Aydemir diesen Alltag der Ausgegrenzten schildert, leistet sie einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Der Roman regt dazu an, über Integration und Heimat neu nachzudenken: Wer darf sich zugehörig fühlen, wer nicht? Welche Geschichten werden in Familien erzählt, welche totgeschwiegen? Dschinns wirft all diese Fragen auf und liefert damit viel Diskussionsstoff zu Migration, Identität und dem, was Heimat bedeuten kann.

Persönliche Wirkung

Ich bin selbst ohne direkten Migrationshintergrund in Deutschland aufgewachsen, aber in meiner Jugend waren Freunde mit Zuwanderungsgeschichte Teil meines Alltags. Vielleicht rührt daher meine besondere Empfänglichkeit für die Themen des Romans. Dschinns hat in mir alte Gespräche und unausgesprochene Gefühle wachgerufen: Das unsichere Schweigen, wenn es um die Vergangenheit der Großeltern ging; der Stolz und die Strenge der Eltern, die immer „das Beste“ wollten und doch Gefühle unter den Teppich kehrten; das Gefühl der Kinder, es den Eltern nie ganz danken oder recht machen zu können. Aydemir schreibt über all das mit einer Wahrhaftigkeit, die mich mehrfach tief getroffen hat. Ich gebe zu, dass mir bei der Versöhnungsszene zwischen Emine und Sevda am Ende die Tränen kamen – zu sehr spiegelte sich darin etwas Universelles, das über diese spezifische Migrantengeschichte hinausgeht: nämlich der generationenübergreifende Schmerz, einander nicht gerecht werden zu können, obwohl man sich doch liebt.

Literaturkritisch betrachtet mag Dschinns nicht perfekt sein. Sicher, man könnte argumentieren, dass Aydemir am Ende etwas viel möchte – vom Erdbeben als großem dramatischen Finale bis hin zur letzten Enthüllung eines lange verschwiegenen Familiengeheimnisses packt sie enorm viel Stoff hinein. Diese kleinen dramaturgischen Überfrachtungen habe ich der Autorin jedoch gerne nachgesehen. Denn was Dschinns bei mir hinterlässt, überstrahlt die kleineren Schwächen bei Weitem: ein lebendiges Gefühl für die Lebensrealitäten einer zwischen Kulturen stehenden Familie, ein Verständnis für die Opfer der Elterngeneration und die Nöte ihrer Kinder, und nicht zuletzt Bewunderung für die literarische Kraft, mit der Aydemir all das in eine spannende Geschichte gegossen hat. Tage nach der Lektüre gingen mir die Figuren noch durch den Kopf – als würden ihre Dschinns mich selbst heimsuchen und zum Nachdenken zwingen über Fragen wie: Was verschweigen wir in unseren eigenen Familien? Welche Geister der Vergangenheit tragen wir weiter?

Dschinns ist ein Roman, der einen so schnell nicht loslässt. Fatma Aydemir zeigt darin eindrucksvoll, welch erzählerische Macht in den oft überhörten Geschichten der „Anderen“ steckt. Für eine literaturaffine Leserin wie mich, die gerne in unterschiedliche Lebenswelten eintaucht, war dieses Buch eine wahre Bereicherung – und zugleich eine emotionale Zumutung im besten Sinne. Sachlich betrachtet erfüllt Dschinns eine wichtige gesellschaftliche Funktion, indem es Empathie für die migrantische Perspektive weckt. Persönlich hat es mich zutiefst angerührt. Dieser Spagat aus kritischer Relevanz und menschlicher Wärme macht Dschinns für mich zu einem herausragenden Leseerlebnis. Ich lege es jeder und jedem ans Herz, der bereit ist, sich auf eine Familientragödie voller Herz und Verstand einzulassen. Es sind Bücher wie dieses, die unseren literarischen Kosmos diverser, wahrhaftiger und reicher machen.


Quellenhinweise

Diese Rezension basiert auf meiner eigenen Lektüre von Dschinns sowie auf einer Auswahl fundierter Sekundärquellen, die meine Einschätzungen ergänzen und vertiefen. Besondere Anregungen lieferten mir unter anderem Nicole Hennebergs Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.03.2022, über Perlentaucher), Meike Feßmanns einfühlsame Analyse in der Süddeutschen Zeitung (14.02.2022) sowie Iris Radischs kontroverse Kritik in Die Zeit (Nr. 09/2022, 27.02.2022). Auch Christoph Schröders Beitrag für den Deutschlandfunk Büchermarkt (13.02.2022) und Antonia Baums Artikel im Spiegel (09.06.2022) lieferten mir wertvolle Perspektiven. Ergänzend dazu habe ich Gerrit Bartels’ Besprechung im Tagesspiegel (12.02.2022) berücksichtigt. Zwei Interviews mit der Autorin selbst – eines mit Johann Voigt für fluter.de (14.02.2022), ein weiteres mit Schayan Riaz für Qantara.de (14.10.2022) – gaben zudem Einblick in Fatma Aydemirs eigene Intentionen und reflektierten das Spannungsfeld zwischen autobiografischer Nähe und literarischer Gestaltung.

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