Mein Blick geht auf die See – Henriette Paul | Eine Rezension

 

Hinweis: Ich habe im Vorfeld das Korrektorat für diesen Roman übernommen. Die Rezension spiegelt dennoch meine persönliche, unabhängige Meinung wider. [Werbung]

Ein historischer Roman, der mit Wucht daherkommt – und in jeder Zeile Tiefe entfaltet

Mein Blick geht auf die See von Henriette Paul entführt uns auf eine abgelegene schottische Insel und verwebt meisterhaft verschiedene Zeitebenen: 1829 schreibt der junge Komponist Felix von einer Hebrideninsel Briefe an seine Schwester; 1832 findet der zehnjährige Ian am Strand ebenjenes Eilands mysteriöse mittelalterliche Schachfiguren; und 2018 stößt die Kunsthistorikerin Susan in London auf ein Rätsel, das bis zu jenem Fund zurückreicht. Was zunächst wie drei lose Erzählfäden erscheint, fügt sich im Verlauf des Romans zu einem dichten Gewebe aus Schicksalen, Geheimnissen und historischen Verflechtungen. Als Leserin – und als Lektorin – hat mich besonders beeindruckt, wie souverän Henriette Paul diese unterschiedlichen Elemente mit historischen Fakten, psychologischer Subtilität und erzählerischer Fantasie zu einem stimmigen Ganzen formt.

Literarische Qualität

Sprachlich und erzählerisch überzeugt der Roman auf ganzer Linie. Henriette Pauls Stil ist bildhaft und atmosphärisch dicht. Schon auf den ersten Seiten glaubte ich, das Tosen der See und den salzgesättigten Wind der Hebriden förmlich zu hören und zu spüren. Die Autorin – selbst ausgebildete Schreibpädagogin – versteht es, mit präziser Sprache lebendige Szenen zu gestalten, ohne ins Klischeehafte zu gleiten. Besonders eindrücklich ist die Vielschichtigkeit der Erzählstruktur: Die Perspektivwechsel zwischen den Zeitebenen – teils in Briefform, teils in auktorialer oder personaler Erzählweise – gelingen mühelos und ohne erzählerischen Bruch.

So erleben wir Felix’ Geschichte in der Ich-Form seiner Briefe, während Ians Erlebnisse in einer erzählerischen Gegenwart geschildert werden, die dem historischen Stoff Leben einhaucht. Diese Wechsel verleihen dem Roman nicht nur Tiefe, sondern auch rhythmische Spannung. Sie erfordern jedoch ein aufmerksames, mitdenkendes Lesen – was ich persönlich als literarischen Reiz empfinde, aber nicht jede*r Leser*in mögen wird.

Ein herausragendes Merkmal ist die feine Detailgenauigkeit, mit der historische Gegebenheiten eingeflochten sind. Die im Sand entdeckten Schachfiguren entsprechen den Lewis Chessmen, die im 19. Jahrhundert auf den Äußeren Hebriden gefunden wurden – inklusive der legendären Berserker, die ihre Schilde mit den Zähnen bearbeiten. Solche Anspielungen zeugen von sorgfältiger Recherche und machen die Geschichte umso glaubwürdiger. Trotz dieser historischen Dichte bleibt der Ton erzählerisch leicht – niemals belehrend, niemals trocken. Fakt und Fiktion greifen organisch ineinander.

Nicht zuletzt besticht Mein Blick geht auf die See durch seine poetischen Bilder. Vor allem in den Briefen des Komponisten Felix liegt eine musikalische, fast lyrische Qualität. In einem seiner Briefe heißt es: „Mein Blick geht auf die See, die mir so übel mitgespielt hat. Weit ist sie und unergründlich. Hier drinnen jedoch ist es friedlich, und so lasse ich mich weiter von meiner Retterin retten.“
Solche Passagen laden zum Innehalten ein. Sie bezeugen das sprachliche Feingefühl der Autorin. Als Vielleserin und Lektorin fällt mir auf, wie präzise hier gearbeitet wurde: Jeder Satz sitzt, jedes Bild hat Gewicht, nichts wirkt beliebig.

Psychologische Tiefe

Trotz (oder gerade wegen) des historischen Rahmens besticht der Roman durch eine unerwartete psychologische Tiefe. Die Figuren sind keine holzschnittartigen Zeitzeugen, sondern lebendige Menschen mit komplexen Gefühlen und Konflikten. Felix, der Komponist, ringt beispielsweise mit seiner inneren Zerrissenheit zwischen künstlerischem Erfolg und Einsamkeit. Durch seine Briefe erhalten wir intime Einblicke in seine Ängste und Hoffnungen – er wird fern seiner Heimat Zeuge eines Dramas und verarbeitet dieses Erleben schreibend, was ihn dem Leser sehr nahe bringt.

Ebenso einfühlsam gezeichnet ist der zehnjährige Ian. Aus seiner kindlichen Perspektive erleben wir Staunen und Verunsicherung: Der Fund der mysteriösen Schachfiguren ist für ihn zunächst ein Abenteuer voller Fantasie. Seine Unschuld kollidiert schließlich mit der harten Realität, als klar wird, welche Folgen sein Fund für die Familie haben kann. Die Autorin fängt diesen Prozess ein, ohne jemals den Blick auf die Gefühlswelt eines Kindes zu verlieren. Ians Beziehung zu seinem Vater, geprägt von Liebe, aber auch von unausgesprochenen Erwartungen, wird nuanciert dargestellt.

In der Gegenwartsebene begegnen wir Susan, einer Kunsthistorikerin Mitte 30, die beruflich erfolgreich wirkt, innerlich jedoch mit Zweifeln und der Bürde der Vergangenheit kämpft. Ihre Nachforschungen rund um Ians Schachfiguren werden für sie zu einer persönlichen Reise. Susan muss sich fragen, warum sie die Geschichte dieser Objekte so sehr beschäftigt. Ist es rein wissenschaftliches Interesse, oder sucht sie unbewusst nach Verbindungen zu ihrer eigenen Familiengeschichte? Ihre Entfremdung von der Welt und der Versuch, über ein Objekt der Vergangenheit wieder Sinn zu gewinnen, erinnert an die besten Passagen bei A.S. Byatt oder Tracy Chevalier.

Besonders schön fand ich, dass die Autorin die Parallelen und Kontraste zwischen den Figuren der unterschiedlichen Epochen herausarbeitet: Alle drei – Felix, Ian und Susan – stehen auf ihre Weise vor Entscheidungen, die ihr Leben verändern werden, und alle drei werden von der Frage getrieben, wo sie hingehören und was wirklich wichtig ist. Diese universellen menschlichen Fragen geben dem Roman eine psychologische Relevanz, die über das Historische hinausreicht.

Gesellschaftliche Relevanz

Obwohl Mein Blick geht auf die See in weiten Teilen im 19. Jahrhundert spielt, besitzt der Roman eine erstaunliche gesellschaftliche Aktualität. Zum einen beleuchtet er, wie historische Ereignisse und Funde über Generationen nachwirken. Ians Entdeckung der Schachfiguren verändert nicht nur das Schicksal seiner eigenen Familie, sondern wirft Fragen auf, die bis ins 21. Jahrhundert reichen: Wem „gehören“ kulturelle Artefakte? Welche Bedeutung haben solche Funde für die Nachwelt?

Tatsächlich basiert der Roman auf einem realen historischen Fund: 1831 wurden auf der Insel Lewis in den Äußeren Hebriden mittelalterliche Schachfiguren entdeckt – ein Schatz, der heute als die berühmten Lewis Chessmen weltweite Bekanntheit erlangt hat. Ein Großteil dieser Figuren wird im British Museum in London ausgestellt, einige auch im National Museum of Scotland in Edinburgh; lange galten mehrere Stücke als verschollen. Die Lektüre von Henriette Pauls Roman hat mich dazu angeregt, mich in diese historische Sachlage zu vertiefen – und staunend festzustellen, wie eng Fiktion und Wirklichkeit hier beieinander liegen.

Darüber hinaus berührt der Roman Themen wie Familie, Tradition und Wandel. Die damaligen Lebensumstände auf der abgelegenen Insel sind rau und entbehrungsreich – Henriette Paul zeichnet einfühlsam nach, wie die Dorfgemeinschaft funktioniert, welche Rollenbilder herrschen und wie ein plötzlicher „Schatzfund“ diese kleine Gesellschaft herausfordert. Hier schwingen Fragen von sozialer Gerechtigkeit und Zusammenhalt mit: Werden die Inselbewohner vom Fund profitieren oder fremdbestimmt ausgebeutet?

In der Ebene von 2018 spielt dann auch der Umgang moderner Institutionen mit historischem Erbe eine Rolle. Als Kunsthistorikerin muss Susan sich z.B. mit Museen, Auktionen und wissenschaftlichem Ethos auseinandersetzen. Diese Aspekte fand ich äußerst spannend, denn sie verleihen der Geschichte eine größere Relevanz. Gerade heute, wo die Rückführung von Kulturgütern und der ethische Umgang mit kolonialer Beute viel diskutiert werden, regt der Roman zum Nachdenken an – subtil, ohne moralischen Zeigefinger, aber doch deutlich.

Nicht zuletzt ist Mein Blick geht auf die See ein Generationenroman, der zeigt, wie sich gesellschaftliche Zwänge und Werte im Laufe der Zeit verändern.

Persönliche Wirkung & Fazit

Mein Blick geht auf die See ist mehr als eine gute Geschichte. Schon während des Korrektorats spürte ich, dass dieses Buch etwas Besonderes ist. Die Geschichte hat mich vollkommen in den Bann gezogen.

Emotionale Höhepunkte gab es einige: Ohne zu viel zu verraten, war ich insbesondere von einem Moment gegen Ende tief ergriffen, als sich die Schicksalsfäden der Generationen berühren. Henriette Paul ist es gelungen, echte Empathie für ihre Figuren zu wecken – ich habe mit Felix gelitten, mit Ian gestaunt und mit Susan gehofft. Wer sich von historischen Romanen vorrangig große dramatische Spannungsbögen erwartet, könnte hier und da die erzählerische Zurückhaltung als langatmig empfinden – gerade im mittleren Teil, der viel innere Bewegung bietet. Für mich liegt gerade darin eine große Stärke: Das Buch drängt sich nicht auf. Es lässt Raum. Es fordert nichts – es schenkt.

Aus meiner Sicht ist Mein Blick geht auf die See ein rundum empfehlenswerter Roman. Er bietet spannende historische Einblicke, starke Charaktere und eine Geschichte, die Herz und Verstand gleichermaßen anspricht.


Quellenhinweise

Für diese Rezension wurden neben dem Roman auch öffentliche Sekundärquellen berücksichtigt. Hintergrundinformationen zu den Lewis Chessmen entstammen unter anderem einem Artikel des Guardian vom 3. Juli 2019 („Lewis Chessman bought for £5 in 1964 could fetch £1m at auction“) sowie der Online-Präsentation des British Museum. Ergänzende Details zur Autorin und ihrem Zugang zum Schreiben finden sich auf ihrer Website henriettes-schreibwerkstatt.com sowie in einem Interview auf literaturfenster.de vom November 2024. Zitate aus dem Roman stammen aus dem mir im Rahmen des Korrektorats vorliegenden Manuskript. Die Rezension basiert ausschließlich auf meiner persönlichen Lektüre und wurde unabhängig verfasst.

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