Auf der Suche nach Dachterrassen – Hannah Böhm | Eine Rezension


Hinweis: Ich habe vom Verlag Stelling ein kostenfreies Rezensionsexemplar erhalten. Meine Einschätzung bleibt davon unberührt. [Werbung]

Eine junge Stimme zwischen Poesie, Philosophie und Alltag

„Manchmal braucht es nur einen Satz, um alles zu verändern. Eine Erinnerung, ein Gespräch, ein Gedanke an einer Schulklowand. Hannah Böhm schreibt Texte, die zwischen den Zeilen leben – zart, klug und voller Wucht. Ihre Geschichten handeln vom Suchen und Finden, vom Schweigen, Scheitern, Lieben – vom Menschsein.“ (Verlag Stelling)

Hannah Böhm, Jahrgang 2005, sammelt Momente aus dem echten Leben. In ihrem Debüt Auf der Suche nach Dachterrassen – Kommunikationslehren lässt sie uns teilhaben an neun literarischen Miniaturen, die zwischen Prosa und Lyrik changieren. Der Verlag setzt dabei auf ein handwerklich liebevoll gestaltetes Mini-Taschenbuch aus nachhaltig produziertem Zuckerrohrpapier. Dieses schmale Büchlein ist ein überraschend intensives Erlebnis.

Literarische Qualität

Böhm schreibt kurze, fragmentarische Texte, die wie Polaroids wirken. Ihre Miniaturen sind Momentaufnahmen voller Emotion, Beobachtungskraft und Sprachgefühl. Am besten erklärt sich die Besonderheit dieses Mini-Buches an einem Beispiel: In Kommunikationslehre 1 sinniert ein jugendliches Ich über die Pseudo‑Weisheiten an einer Schultoilettentür. Es kritzelt den Satz: „Ich glaube, ich habe herausgefunden, wie man nie aufhört, traurig zu sein.“ Eine Woche später entdeckt es, dass der Wandstrich unter einer Schicht grauer Farbe verschwunden ist. Diese Szene erinnert daran, wie schnell politische Graffiti übermalt und unangenehme Wahrheiten übertüncht werden. Präzise Beobachtungen, poetisch verdichtet, rufen Bilder hervor, ohne ins Pathos zu verfallen. Böhm interessiert sich für den Klang der Worte, und das spürt man: Rhythmus, Alliteration und unerwartete Brüche verleihen ihren Miniaturen einen musikalischen Unterton. Dabei vermeidet sie jede Ziellosigkeit, was als Lektorin mein Herz höher schlagen ließ.

Formal erinnert Böhm an moderne Kurzprosa und freie Lyrik. Die Texte verzichten auf klassische Plotstrukturen und setzen auf assoziative Übergänge. Die Autorin selbst betont im Interview, dass sie von Kurzprosa und realistischen Romanen geprägt wurde und die fragmentarische Form gewählt hat, weil sie reale Erlebnisse wie Momentaufnahmen abbilden möchte. Diese bewusste Struktur macht Auf der Suche nach Dachterrassen zu einem Buch, das man nicht in einem Zug herunterliest, sondern das Raum zum Verweilen bietet. Die kurzen Kapitel sind handwerklich sorgfältig gesetzt; nichts wirkt beliebig oder unüberlegt. Gerade weil die Texte so reduziert sind, ist die Komposition entscheidend, und hier zeigt sich Böhm erstaunlich sicher.

Psychologische Tiefe

Trotz der geringen Seitenzahl gelingt eine erstaunliche psychologische Tiefe. Die Grenzen des Sagbaren und die Zwischenräume von Gesprächen werden erkundet. Die Autorin sieht Kommunikation nicht als Werkzeug, sondern als Spiegel des menschlichen Wesens: „Kommunikation lehrt uns wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren. Oft sind sie unklar, unausgesprochen und verwoben. Über Kommunikation nachzudenken, lehrt oftmals gar nicht "besser" zu kommunizieren, insofern es eine objektiv gute Kommunikation überhaupt gibt. Viel eher lehrt es etwas über das Wesen des Menschen. Und das Kommunikation mit all ihren verschieden Fassetten zutiefst menschlich ist.“ (Interview) In ihren Texten schwingt immer auch das Schweigen mit. Böhm betrachtet Stille als eine eigene Art von Kommunikation. Eine Erkenntnis, die sich in vielen Passagen niederschlägt.

Die Miniaturen kreisen auch um Themen wie Traurigkeit, Macht und Sterblichkeit. In Kommunikationslehre 2 beobachtet das erzählende Ich eine Ameise, die über kalte Fliesen krabbelt; die kleine Schwester klatscht sie achtlos tot. Die Erzählerin reagiert mit der Frage: „Hast du schon mal Gott gespielt?". Die naive Antwort der Schwester („Der Gott über die Ameisen?“) mündet in einer Reflexion über Macht und Verantwortung. Im Hintergrund laufen im Fernseher Nachrichten über Armut, Diskriminierung und Bomben. In wenigen Zeilen verbindet Böhm hier kindliche Perspektiven mit globalen Katastrophen und zeigt, wie untrennbar individuelles Erleben und gesellschaftliche Gewalt verwoben sind.

Gesellschaftliche Relevanz

Obwohl Auf der Suche nach Dachterrassen primär persönliche Momentaufnahmen enthält, berührt der Band viele gesellschaftliche Themen. Die Autorin ist Generation Z und verleiht ihrer Generation eine literarische Stimme. Sie schreibt über Unsicherheiten, Freundschaft, Nähe, Verlust und Sehnsucht. Diese Gefühlslandschaft ist typisch für junge Erwachsene, aber ihre Beobachtungen reichen darüber hinaus. Böhm thematisiert z. B. indirekt Gewalt, Machtmissbrauch und die Flüchtigkeit von Nachrichten. Die Episode mit der Ameise wird zu einer Metapher für das Verfügen über Leben, während im Hintergrund die Bilder von Krieg und Diskriminierung laufen. Die Texte laden dazu ein, über Macht und Ohnmacht nachzudenken.

Gesellschaftlich relevant ist auch die Form des Buchs: Es ist auf baumfreiem Zuckerrohrpapier gedruckt und handgebunden. Ein Statement für nachhaltiges Publizieren. Der Verlag beschreibt die Sammlung als philosophisch, poetisch und radikal ehrlich, eine literarische Momentaufnahme unserer Zeit. In Zeiten, in denen wir uns häufig über Lautstärke definieren, hält Böhm ein Plädoyer für die leisen Töne. Ihre Faszination für Stille, die sie als Positionierung im Raum der zwischenmenschlichen Beziehungen versteht, ist im digitalen Zeitalter hochaktuell.

Persönliche Wirkung & Fazit

Zunächst war ich skeptisch: ein schmales Buch von gerade 22 Seiten, mit extrem kurzen Texten, geschrieben von einer sehr jungen Autorin. Doch beim Lesen musste ich mir eingestehen, dass meine Vorurteile fehl am Platz waren. Die Haptik hat mich überzeugt: ein kleines, handgebundenes Buch, das man gern in die Hand nimmt. Und in jedem Satz spürt man die Sorgfalt. Als Lektorin erlebe ich selten eine so junge Stimme, die stilistisch bereits so sicher ist. Böhm besitzt ein ausgeprägtes Gespür für atmosphärische Dichte. Inspirieren lässt sie sich dabei von Erich Fried oder Rose Ausländer.

Die neun "Kommunikationslehren" haben mich mal zum Lächeln gebracht, mal nachdenklich gestimmt. Ich habe mich in den Figuren wiedergefunden und doch immer wieder neue Perspektiven entdeckt. Besonders beeindruckt hat mich, wie Böhm mit einem einzigen Bild eine ganze Welt heraufbeschwört. Wer eine stringente Handlung oder lange Spannungskurven erwartet, wird hier nicht fündig; dieses Buch lebt von der Verdichtung und vom offenen Ende. Für mich liegt gerade darin seine Stärke: Es lädt ein, innezuhalten, zu reflektieren und ins Gespräch mit sich selbst zu treten.

Hannah Böhm zeigt mit diesem Debüt, dass literarische Qualität keine Frage des Alters ist. Auf der Suche nach Dachterrassen ist ein kraftvolles Buch über das Menschsein. Wer bereit ist, sich auf diese ungewöhnliche Leseerfahrung einzulassen, wird reich belohnt.

 

Quellenhinweise

Ich habe Auf der Suche nach Dachterrassen vollständig gelesen und meine Eindrücke in dieser Rezension dargelegt. Ergänzend habe ich Informationen von der Verlagsseite sowie aus einem dort veröffentlichten Interview mit Hannah Böhm herangezogen (verlag-stelling.info). Alle zitierten Textstellen stammen aus dem Buch selbst.

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